Donnerstag, 21. November 2013

Die Massage (Die Wirkung der Inszenierung)

Thomy geht es nicht besonders gut. Vor zwei Wochen hat seine Freundin Schluss gemacht. Haltlos und in seinen Gedanken versunken, sitzt er im 20er Bus Richtung Stadtesinnern. Er zückt seinen Ipod und wählt die Wiedergabeliste „Zufälliger Titel“. Sofort ertönt *She loves you* von den Beatles. Na toll, denkt sich Thomy und klickt auf Next. *November Rain* erklingt mit seinen sanften Tönen. „Ach Axle, der Monat passt vorzüglich, die Stimmung überhaupt nicht.“ Next! *Angel* von Robbie Williams. „Was Engel? Der Teufel soll sie holen.“ Thomy drückt genervt auf Weiter. Dabei flutscht ihm das Hightechgerät aus der Hand. „Auch das noch, du…“ Fluchend bückt er sich und bleibt beim Hochheben für einen kurzen Moment an einem aufgehängten Werbeplakat mit der Aufschrift: "Gestresst?" haften. „Und WIE ich mich gestresst fühle!...“

Ein neues Lied beginnt sich in den Ohrmuscheln von Thomy zu entfalten. *My heart is a beating drum*. „Leider nicht mehr für dich, Schätzchen. Es blutet…” Next! *The difference between us*. *Last dance*. *Wonderwall*. *Far away*. Next, next, next, NEXT!!! *When a man loves a woman*... „Ok lieber Ipod, du hast gewonnen!” Zerknirscht wirft Thomy seinen Ipod in die Jackettasche, tätschelt die Oberfläche ein paar Mal und grummelt: „Na, bist du nun zufrieden?“ Abwesend schweift sein Blick wieder auf das Plakat zurück. „Gestresst? Wir haben die Lösung! Rufen Sie uns noch heute an und vereinbaren sie einen unverbindlichen Termin bei uns. Das Wa-Ki-Ta-Team freut sich auf deinen Besuch.“Kurzentschlossen rupft Thomy sein Iphone aus der Hosentasche und scannt den QR-Code ein. Augenblicklich später hat er seinen ersten Massagetermin bei Frau Chanruni Winthachai ausgemacht. Termin: Mittwoch 20. November 2013. Also Übermorgen.

Das Therapiestudio ist mit den öffentlichen Verkehrsmitteln leicht zu erreichen. Gerechtigkeitsgasse 73, in Zentrum von Bern. Thomy ist – wie immer – spät dran. Die letzten 100 Meter nimmt er im Laufschritt auf sich und hetzt so förmlich in das Thai-Studio herein. Dabei beachtet er weder die aussenstehende Dekoration noch die zwei spalierstehenden Buddha-Skulpturen. Eine Schande!

Im Studio angelangt, gibt es jedoch kein Entrinnen mehr. Unvermeidlich erhaschen seine strapazierten Poren die schwül, tropische Luftveränderung. „Ach herrjeh, wo bin ich denn da gelandet…“ Taumelt, ja sogar ein bisschen irritiert, versucht Thomy seine Jackentasche zu öffnen. Dies gelingt jedoch nur halbherzig. Fluchend zerrt er abermals am Reissverschluss und bemerkt dabei ein zweites Händepaar, welches sanft und heilsam seine Hände umklammert. Thomy hebt beherzt seinen Kopf und blickt reumütig in die kastanienbraunen Augen des Gegenübers. Wie vom Blitz getroffen, hörte Thomy das Meer rauschen. Diese Ruhe, diese Vollkommenheit. Die Sonne grüsst seine Anwesenheit und auf dem Steg stehend beobachtet Thomy eine bildhübsche Thai-Dame, die sich genüsslich und mit aller Ruhe eincremt. „Oh Gott, oh Gott! Wie peinlich, jetzt hat sie mich bemerkt.“ Sie lächelt, zeigt auf ihr freies Badetuch und fordert Thomy auf sich neben sie zu setzen. Wie hypnotisiert folgt Thomy der Aufforderung.

„Click“. Thomy hat all seine Kleider und Schulsachen im Schliessfach verstaut und macht sich mit dem Badetuch bewaffnet auf die Suche nach dem Zimmer C23. Das Plätschern erklingt wieder. Erst jetzt fällt ihm auf, dass es sich um eine asiatischen Springbrunnen handelt, welcher das Meeresrauschen nachahmt. Die feuchtwarme Atmosphäre macht ihm nun nichts mehr aus. Im Gegenteil, es beflügelt ihn förmlich und er läuft schier schwebelos durch den unterirdischen Gang des Thai-Therapiestudios. Auch die anfänglichen Schweissausbrüche sind verschwunden. Einfach weg – wie weggezaubert. Der Gang ist dezent beleuchtet. Farben tauchen aus dem Nichts auf, formieren sich und verschwinden blass in der Dunkelheit. Fasziniert begutachtet Thomy das entzückende sowie fesselnde Farbenschauspiel. „Einfach traumhaft, nicht einmal einen Joint könnte sowas bewirken.“ Das Plätschern wird hellhöriger und erreicht ihren Höhepunkt, als er die Türklinke zum Zimmer C23 betätigt. 

Grellendes Licht macht sich auf der Gesichtsfläche von Thomy breit. Von der plötzlichen Helligkeit überrumpelt, schliesst Thomy die Augen. Vogelgezwitscher da, Meeresrauschen da drüben. Und erst dieser Duft. Süss, aromatisch, kräftig und doch so verführerisch und sinnlich. Eine asiatische Gewürzmischung wäre nichts dergleichen. „Noch einen Zug. Ach, tut das gut!“
Nach und nach versucht Thomy die Augen zu öffnen. Es gelingt ihm nur bedingt. Alles ist verschwommen, die Augenlider sind schwer und er füllt sich in Trance. Doch aufregend ist es allemal. Und da ist sie wieder. Thomy kann sie zwar nicht sehen. Doch er kann sie fühlen, riechen, schmecken. Hoffnungsloss ist er ihr verfallen. Der Druck, der Puls – ja sogar der Verstand – lässt nach. Behutsam wird Thomy auf die Liegefläche manövriert. Die Matratze ist weich, flaumig und samt. Sofort hascht Thomy nach einem weiteren Zug. Das süssduftende Aroma verbreitet sich postwendet in seiner Lunge. Eine Heizdecke wird ihm sorgfältig über den Körper zurechtgelegt. „So fühlt sich also der Himmel an!“ Wie ein Baby kuschelt sich Thomy an die Decke heran und schlummert baldig vor sich hin. Die Hektik ist weg, der Schulstress ist weg, die Streitereien mit seiner Ex sind aus dem Gedächtnis gelöscht.

Nach zwei Minuten beginnt Frau Winthachai die Massagetherapie. Sanft und mit voller Liebe umkreist sie den pulsierenden Nackenbereich von Thomy. Die Duftkonzentration hat sich verändert. Das Mandelöl schmeckt nach Pfirsich – oder doch eher nach Mango? „Egal, die Wirkung ist unbeschreiblich schön.“ Rotierend arbeitet sich die Therapeutin mit ihren zarten und geschmeidigen Händen bis zu den Hüftknochen vor. Ein Hauch von Erotik liegt in der Luft. Verführerisch wechselt sie wieder in Richtung Nacken. Nun sind die Ohrläppchen dran. Der Puls von Thomy erhöht sich schlagartig. Die Bewegungen der Therapeutin werden intensiver und druckvoller. Thomy’s Herz rast. Er keucht, schnaubt nach Luft und sein Körper bebt am ganzen Leib. Er hat schlicht die Kontrolle über sein Körper verloren. An eine Frau, die er gar nicht kennt. Doch er vertraut ihr. Voll und ganz. Die Massagenbewegungen werden noch leidenschaftlicher ausgeführt. Seine Gedanken sind befremdlich. Plötzlich fühlt Thomy den unabdingbaren Drang, dass die wunderschöne Thai-Dame an seinen Ohren knappert. „Mach jetzt. Bitte!“ 

Sein Herzklopfen ist nun ohrenbetäubend. Verschwommen erinnert er sich an den ersten Zungenkuss, an das erste Mal. Damals fühlte er sich erwachsen. „Damals konnte ich Bäume ausreissen. Versprühte die Kraft von zehn Seeleuten! Die Lust und die Gier die Welt zu verändern, waren unerschöpflich. Dieses Gefühl, ich will es zurück, wo bist du nur so lange gewesen?“ Die Gedanken vermischen sich. „Wo bin ich?“ Thomy ringt immer noch nach Luft, sein Körper vibriert beharrlich und sein Drang ist unerschöpflich. „Jetzt mach schon. Ohrläppchen!“

Sie tut es aber nicht. Mehr noch. Die Bewegungen werden langsamer und Thomy erwacht aus seinem Delirium. Er versucht seine Gedanken zu sammeln. Was ihm aber nur beschränkt gelingt. Plötzlich grinst Thomy – das erste Mal seit geraumer Zeit – und betrachtet aufrichtig die Thai-Masseurin. „Wäre ja zu schön gewesen, um wahr zu sein.“ Die Masseurin wechselt dergleichen geschwind das Öl und beginnt mit der Nachbearbeitung des Kunden.

Thomy begleicht die Rechnung bar und legt ein ansehnliches Trinkgeld drauf. Wie frisch verwandelt, verlässt er das Therapiestudie und läuft frohlockend zum Bahnhof. Dabei zuckt er den Ipod und wählt abermals die Wiedergabeliste „Zufälliger Titel“. Sofort erklingt Depeche Mode. "Yes, the Bad Boy is back!" Beschwingt wechselt Thomy die Strassenseite und summt dazu: “ I’m taking a ride with my best friend. I hope he never lets me down again... “


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